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"Le martyre de Saint Sébastien - ein lateinischer Parsifal?" In KUNST WIRD MACHT - Impulse
Le martyre de Saint Sébastien – ein lateinischer Parsifal?

Le martyre de Saint-Sébastien, Mysterienspiel von Gabriele d´Annunzio mit Musik von Claude Débussy besteht aus fünf Akten und einem Prolog; die einzelnen Akte werden vetrate, Glasfenster, genannt, denn von den Glasfenstern in Kirchen (und auch der christlich mittelalterlichen Darstellung im allgemeinen) haben sie die statische Form der Erzählung, die von den Qualen des Heiligen erzählen, einer Mischung aus Religiösem und Profanem. Das dramatische Geschehen entwickelt sich langsam, jede Figur erscheint einzeln, um sich in die Handlung einzufügen und dabei ein lebendiges Gruppenbild zu arrangieren, einen tableau vivant. Die ganze Entwicklung der Geschichte ist regelrecht gespickt mit Momenten der Künstlichkeit in Pose und Ausdrucksweise und entspricht damit dem Typus der dekadenten Oper. Darüberhinaus ist jede Szene des Martyre fur sich eigenständig und kann auch in Abwesenheit der nachfolgenden bestehen.

D´Annunzio besaß in seinem französischen Haus verschiedene Bilder des Heiligen Sebastian, um zu zeigen, welch besondere Bedeutung der Stoff für ihn hatte, nicht aufgrund seiner religiösen Frömmigkeit, sondern wegen des potentiellen erotischen Untertons; die Ikonographie des Heiligen Sebastians wird auch später im Vittoriale degli Italiani präsent sein.

Die Erotik ist zweifellos ein Aspekt, der diese Arbeit d´Annunzios mit dem Parsifal verbindet, ein starker erotischer Impuls, der beiden Künstlern eigen ist, deren Biographien  dominiert werden von erotisch motivierten Situationen in denen Eros und Thanatos sich umarmen (sublimes Thema des Tristan) und in der die religiöse Passion in erregten Gefühlen mündet, die den Menschen in einen zärtlichen, sinnlich und spirituellen Reiz verwickeln, wie es auch im Barock verbreitet war. Das asketische Ideal und gleichzeitig der Wunsch nach Sinnlichkeit, bereits im Tannhäuser thematisiert, schufen instabile, teils trügerische Gleichgewichte, denn sowohl das religiöse Moment, als auch das erotische, verbergen dunkle und hintergündige Seiten, beide können morbide Zustände hervorrufen, einen Mangel an Vitalität oder auch einen Zustand der Jungfräulichkeit, Aspekte, die im Parsifal und im Saint Sébastien gut sichtbar werden.
Das Wort “Mysterium” ist bezeichnend für jenen typischen Aspekt des Heiligen, in dem die Vernunft pausiert, um sich dem Glauben anzuvertrauen. Für einen Heiligen ist das Mysterium wesentlicher Bestandteil des eigenen Seins, so auch im Parsifal, nicht nur in Bezug auf den Gral und die weißen Ritter des heiligen Grals, sondern auch hinsichtlich der schwarzen Ritter von Klingsor und Kundry/Magdalena; der gleiche Parsifal ist ein Rätsel für sich selbst und für die anderen, (der reine Tor, “nichts weißt du”). Geheimnisvoll sind ebenfalls Titurel, Amfortas und der Montsalvat, der heilige See, das Salböl, alle Persönlichkeiten, Orte und Dinge, die an esoterische Zeichen und Erscheinungsbilder gebunden sind, bekannt und erkennbar nur für den Eingeweihten. Verwunderung und Erstaunen bestimmen die Wahrnehmung bei der Bewegungslosigkeit einer Ekstase, einem verzückten Leuchten einer unzugänglichen Wahrheit, wie dem Geist der Heiligkeit von Sebastian, in einer unbeschreibaren Schönheit, wie einem Kuss oder einer Verletzung, wie einem Speer oder einem Pfeil. Die Erregung betrifft beides: Seele und Körper. Wagner beschreibt die erotischen Erfahrungen der Ritter mit den Blumenmädchen, wenn er zeigt, wie diese Mädchen versuchen Parsifal zu verführen, dagegen erzählt er nichts über das sinnliche Abenteuer von Amfortas, der seine Jungfräulichkeit verliert; das Konzept der Unschuld bietet einen Reiz und ruft immer auch dessen Gegenteil hervor, die Verdorbenheit. Dem ist sich D´Annunzio bewusst, der in seinem Heiligen Sebastian, auf der Bühne dargestellt von der hermaphroditen Ida Rubinstein, Keuschheit und Luxus gleichermaßen sieht.

Wagner hatte sich sogar dem Christusthema in Jesus von Nazareth gestellt, es aufgemischt mit dem Einfluß des Mythos, mit den Nibelungen, mit der epischen Figur Barbarossas, mit der heroischen Karls des Großen, mit der sagenumwobenen von Achill, mit politischen und revolutionären Themen, in einer unglaublichen Synthese von Ideen [Synkretismus],  Grenzen eines fiebernden Geistes, vergleichbar auch mit Das Liebesmahl der Apostel oder Luthers Hochzeit und in allem, was Wagner noch an religiösen Argumenten schrieb (darunter auch dem Aufsatz Religion und Kunst). Als ob das nicht ausreichte, versuchte der eklektische Geist Wagners sich auch dem Buddhismus anzunähern, mit Die Sieger durchknetet er eine bunte Mischung aus Gedanken und Figuren, Religionen und Kulturen, heterogen soweit um unter Klassifikation “Dekadenz” zu fallen, die von Nietzsche an mit den späten Opern Wagners verbunden wird, vor allem aber mit Parsifal. Nicht anders ist es im Fall des Le martyre de Saint-Sébastien, in dem das religiöse Thema in Angriff genommen von einer Persönlichkeit wie D´Annunzio nicht anders konnte, als sich in eine heterogene Mischung von Trieben zu verwandeln, heidnisch und letztlich gotteslästerlich in den Augen derer, die die Prinzipien des christlichen Glaubens bewahrten.

Das Mysterium des eigenen Seins und Daseins zu erforschen ist das zentrale Thema und um ein solches Mysterium zu ergründen ist  Sinnlichkeit genauso wichtig wie  Frömmigkeit. Der Schmerz gilt als Quelle des Bewußtseins, aber auch der Lust: dass Leid auch süß sein kann, hatten uns schon Tristan und Isolde gelehrt, wo das Leiden und die Verzweiflung die erotische Passion nähren. Die Pfeile des Heiligen Sebastian schaffen einen heftigen Schmerz, eine sinnliche Marter und eine wollüstige Lust am Sadismus, besonders im dritten Akt, in der Beharrlichkeit mit der Sebastian das Martyrium erfleht und als Heiliger Objekt eines ästhetischen Fanatismus des Kaisers wird. Auch die Figur des jungen Bogenschützen ist Ausdruck einer Art erotischer Ikonographie.

Le martyre de Saint Sébastien wurde am 22. Mai 1911 am Théâtre du Châtelet (Paris) uraufgeführt.[1] D´Annunzio hatte Débussy am 25. November 1910 geschrieben: “Diesen Sommer, während ich ein Mysterium schrieb, über das ich schon lange nachgedacht habe, hatte eine Freundin die Angewohnheit mir Eure Lieder vorzusingen; mein entstehendes Werk erbebte davon. Aber ich wagte nicht auf Euch zu hoffen”; Débussy antwortete fünf Tage später: “Beim Gedanken mit Euch zu arbeiten, fing ich an zu fiebern”.[2]  Der Text, den D´Annunzio erarbeitete, ist in archaischem Französich, ausgedrückt in ottonari, achtsilbigen Versen. Débussy schrieb die Musik in wenigen Wochen, aber die Premiere wurde ein Fiasko, auch aufgrund des Erzbischofs von Paris, Amette, der die Oper zensierte; d´Annunzio fühlte sich verletzt und nörgelte herum, denn er schickte sich gerade an, die Imprimatur [Druckgenehmigung durch den Bischof] anzufragen, da er doch das erste christliche Schauspiel komponiert habe! Die Zensur brachte den Schriftsteller Maurice Barrès in Verlegenheit, obgleich er “de l´honneur et de l´amitié” gedankt hatte, schrieb er dazu dem Autor: “Sie konnten gut die Lust des Bösen ausdrücken und schlecht das Feuer der Seele. Die Oper ist heidnisch”.[3] Der Heilige wurde von der Ballerina Ida Rubinstein dargestellt; wie fast alle dannunzianischen Opern, dreht sich auch das Martyre um eine weibliche Figur, in diesem Fall um eine ganz dünne, bleiche Figur, die ein hermaphrodites Ideal verkörpert. Wie um den Eklektizismus und die Sinnlichkeit noch zu unterstreichen, ist in der Arbeit d´Annunzios auch noch Tanz dabei.

D´Annunzio hatte seit langem die Schwärmerei für Wagner zunächst in sich aufgesaugt und dann überwunden, schon während der Abfassung von Il Fuoco: “- Richard Wagners Werk – erwiderte er – ist auf germanischem Geist begründet und entspringt nordischem Wesen. Seine Reform gleicht in gewissem Sinne der von Luther angestrebten.(…) Ich bin stolz darauf, ein Lateiner zu sein (…) - ich erkenne in jedem Menschen von fremdem Blut einen Barbaren”.[4] D´Annunzio nimmt das Konzept wieder auf, das doch immer Basis der italienischen Ästhetik war, d.h. Klassik, Klarheit, Einfachheit, immer gepaart mit volkstümlichem Charakter, worauf d´Annunzio 1901 hinwies, als er an Verdi erinnerte und die “populäre Musik der Figlia di Iorio” hervorhob.[5]

Die Anspielungen an die christliche Religion sind hier ausgesprochen deutlich, im Vergleich zu Parsifal, “O schöner Jesu, was wäre die Welt, befreit von all eurer Liebe!”, aber der Synkretismus (Vermischung von Religionen) ist der gleiche: “Peana [Choral zu Ehren Apoll]! O Apoll!”. Einige Symbole mit antiker esoterisch und geheimnisvoller Tradition, die christianisiert wurden, ebenso wie der Gral, der ursprünglich als Stein der Weisen gedeutet oder wie in der archaischen keltischen Kultur als Gefäß für magische Heilkräuter verstanden wurde, der sich dann in den Kelch verwandelte, der das Blut Christi auffing. Eine Symbolik mit vager, mehrdeutiger Bedeutung betrifft sowohl im Parsifal, als auch im Le martyre de Saint-Sébastien das Licht, das Blut, die Gnade und den Ruhm, die Jungfräulichkeit und den Eros. Beide  nähern sich der Form der Rede an: die Zeit ist (ek)statisch, das Wort langsam, die Handlung wird erzählt, die Atmosphäre sanft und dekadent, oft erscheint sie gekünstelt. Erinnern wir uns, dass Parsifal als Bühnenweihspiel definiert wurde oder als szenisches Festival, eine Art heiliger Raum, mehr Symbol als Körper, vergleichbar einem liturgischen Ritus, der von Schuld erlöst. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet im Parsifal die Formulierung der Grundmotive unbestimmter wird, so wie ein harmonischer Stoff, der sich zwischen das Diatonische und das Chromatische legt, alles gut verknüpft und umhüllt von einer stolzen kaleidoskopischen Orchestrierung, die manchmal geradezu durchsichtig wird. Débussy schätzte sehr diese Unbestimmtheit, die dann in die Form  des sogenannten Impressionismus hinüberleitet.

Parsifal hatte den dekadenten Synkretismus ins Leben gerufen, aber jetzt sind wir am Beginn des 20. Jahrhunderts und die dannunzianischen Anspielungen gehen über Wagner hinaus, obgleich nicht vergessen wird, dass der große Meister seine Ideen gerade in Italien gefunden hatte, in Sizilien, an der amalfitanischen Küste, in Siena; das mediterrane Licht lässt ihn den Geist des Grals atmen, die Anspielungen an die lateinische Antike umarmen sich mit denen der nordischen Mythologie: “Der Speer von Siegfried und von Achill […] Elena und Isolde” [6], eine kulturelle und stilitstische Vielfalt, die vom späten 19.Jahrhundert in das folgende Jahrhundert eindringt, aus diesem Grund sind die nähesten Referenzen für das Mysterium des Heiligen Sebastian die von Algernon Swinburne und Oscar Wilde (der nicht umsonst Wagner bewunderte). So oder so läuft ein verborgener Faden zwischen beiden Opern, der sie miteinander verbindet, offensichtlich nicht in stilistischer Hinsicht, aber im Hinblick auf die Symbolik und die Gesinnung, so dass wir uns fragen können, ob Le martyre de Saint-Sébastien nicht doch ein lateinischer Parsifal sei.
 
 


[1] Die Komposition findet wenig Beachtung in den Kritiken von Débussy. In einigen Monographien, wie jener von Edward Lockspeiser, Debussy, his life and mind, Cambridge University Press, Bentley House, London 1978, übersetzt ins Italienische von Domenico De Paoli für Rusconi, Milano 1983, Il Martirio e d’Annunzio werden nicht einmal zitiert.
[2] Correspondance Debussy et d’Annunzio, Hrsg. Guy Tosi, Les éditions Denoël, Paris 1948, ital. Übers.  Marie José Manzini in «Bollettino Centro Musicale Fiorentino», Firenze 1978.
[4] Gabriele d’Annunzio,  Das Feuer, Matthes & Seitz, München 1988, S.188f.
[5] La figlia di Iorio wird 1904 zum Libretto verkürzt für die Musik von Pizzetti; d’Annunzio nähert sich immer mehr an die italienische Musik an, sei es die der operisti del tempo, wie Zandonai, Mascagni, Franchetti sei es jene der sogenannten antiken Musik, in der Tat akzeptiert er 1917 die Leitung der Collana editoriale I Classici della Musica Italiana.
[6] Giosue Carducci, Presso l’urna di Percy Bisshe Shelley, da Odi Barbare, Zanichelli, Bologna 1902.



KUNST WIRD MACHT

Immacolata Amodeo / Bettina Vogel-Walter (Hg.) Kunst wird Macht Gabriele D’Annunzio und Richard Wagner impulse. villa vigoni im gespräch – band 15 2020. 156 Seiten mit 39 s/w-Abbildungen € 36,– 978-3-515-12231-3 kartoniert 978-3-515-12252-8 e-book 
 
Der italienische Schriftsteller Gabriele D’Annunzio (1863–1938) und der deutsche Komponist Richard Wagner (1813–1883) waren bereits zu Lebzeiten höchst umstrittene und stark verehrte Persönlichkeiten. Ohne Zweifel herausragende Künstler, gelang ihnen auch der Einbruch in die politische Sphäre. Die Autorinnen und Autoren leisten – aus vergleichender deutsch-italienischer Perspektive – Grundlagenarbeit und untersuchen die Schnittstellen zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft, an denen sich D’Annunzio und Wagner mit ihren Interventionen, besonders aber auch mit ihren Werken bewegten. Die Bayreuther Festspiele erweisen sich als europäischer Kristallisationspunkt, Modell für Frankreich und Italien. Beleuchtet wird auch das Vittoriale degli Italiani in Gardone als ein Ort, an dem deutsche und italienische Traditionen sich begegnen. So zeigt sich, dass sich die Moderne weitgehend über die Ästhetik defi niert und weniger über die Inhalte, was auch zu einer signifi kanten Umdeutung der Rolle der Künstler innerhalb des Staates führt.

Mit beiträgen von
Giordano Bruno Guerri, Immacolata Amodeo, Bettina Vogel-Walter, Jan Claas Van Treeck, Bernard Dieterle, Adriana Guarnieri Corazzol, Maria Ida Biggi, Renzo Cresti, Arnold Jacobshagen, Gabriella Rvagnati, Paola Sorge, Silvia Garinei, Tobias Reichard

Die herausgeberinnen
Immacolata Amodeo, seit 2018 Direktorin des Ernst-Bloch-Zentrums der Stadt Ludwigshafen am Rhein. Honorarprofessur am GutenbergInstitut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bettina Vogel-Walter, Autorin und Kulturmanagerin. Dissertation in Düsseldorf und Dottore di Ricerca in Scienze Storiche, Internationale Universitá di Studi San Marino. Schwerpunkte: D’Annunzio, Richard Wagner, Avantgarde, intellektueller Einfl uss im modernen Staat.

https://www.amazon.de/Kunst-wird-Macht-Gabriele-DAnnunzio/dp/3515122311








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